Neun Uhr, Caffè Rossetti, Alba City. Nicht viel los. Pietro Colla, ja, genau, aus der bekannten Winzerfamilie, lehnt lässig am Tresen, wir sind ja schon da. Und schauen gemeinsam raus, Richtung Cattedrale di San Lorenzo. «Mir gefällt der Ort», so Colla, «weil er intim ist», sagt er, und der Espresso ist gut. Auch als Treffpunkt geeignet. Die Bar, in der man sich kennt. «Ich zeige euch keine Allgemeinplätze, ich zeige euch neue, alte, traditionelle, schräge und gemütliche Orte.
Pietro Colla
Habt ihr Hunger?», fragt er – er meint das rhetorisch. Schon geht es los mit ein bisschen Alba-Geschichte. Ligurier. Römer. Langobarden. Sarazenen. Savoyer. Napoleon. Deutschland. Widerstand. Alba war umkämpft, wurde beinahe zerstört, still ist es nie geblieben, heute vor allem nicht im September, Oktober und November, wenn die Touristen einfallen. Weinlese. Trüffelmarkt et cetera. «Aber die Schweizer», so Colla, die seien bereits ins Piemont gereist, als sie hier in den Restaurants noch Wein aus Zahnputzgläsern serviert hätten. «Die Schweizer haben uns gelehrt, wie man Wein trinkt», sagt er und lächelt fein. «È così», bestätigt Giovanna, seit den 1960ern nähere man sich gastronomisch langsam dem Schweizer Standard an. Giovanna muss es wissen. In ihrem Spezialitätenladen Ognibene an der sogenannten, aber nicht so benannten Via Maestra herrscht seit 53 Jahren «attività», wie sie sagt. «Wir arbeiten», fügt sie an. Das ist eine der Haupttugenden der Piemonteser. Sie arbeiten. Sie sind zurückhaltend. Sie sparen. Die Piemonteser. «Aber bitte, nicht bei Giovanna», sagt Pietro. Funghi. Käse. Salumi. Nüsse. Und Giovanna mittendrin. Ein Paradies. «Das ist der echte Geschmack unseres Territorio», sagt sie, und dreimal muss nicht geraten werden, um zu erahnen, wessen Wein sie dazu am liebsten empfiehlt. Ja, die Albinesi. Halten zusammen. Wir sagen «Addio» und schlendern der Via Maestra entlang. Lebensmittelgeschäfte sind die Ausnahme geworden, dafür Kleider, Schuhe, Brillen und in jedem Schaufenster auch dekorative Weinflaschen. Wein zieht alle an.
Der ideale Treffpunkt, zum Kaffee, zum Aperitif, zum Schwatzen, zum Relaxen. Mitten in Alba, direkt bei der Kathedrale.
Piazza Rossetti 4, Alba
+39 0173 440137
Typische Spezialitäten der Region, Gemüse, alles in bester Qualität, im Untergeschoss eine gepflegte Weinauswahl zu vernünftigen Preisen: kurz ein Feinkost-Supermarkt, wie es früher an dieser Strasse viele gegeben hat.
Via Vittorio Emanuele 9, Alba
+39 0173 441527
«Alba ist die Stadt der hundert Türme. Je höher der Turm, desto reicher die Erbauerfamilie», erzählt Pietro, und wir beginnen uns zu wundern, dass er nicht Tourismusdirektor geworden ist, denn er schwärmt und hält als Nicht-Tourismusdirektor dennoch mit einiger Skepsis fest, dass zu viel Tourismus auch negative Folgen mit sich bringen könne.
«Das Unesco-Label hat der Stadt und der Weinkulturlandschaft lange grosse Türen aufgemacht, und die Zahlen der Besuchermassen beeindrucken», sagt er. Aber eben: Wie viele dieser Tagestouristen kaufen ihr Sandwich bei Giovanna? Wenigstens ein Glas Nutella könnten sie kaufen, denn Nutella ist das Symbol der Region, und niemand hat den wirtschaftlichen Aufschwung während der Nachkriegszeit deutlicher angekurbelt als der im Jahre 2015 verstorbene Michele Ferrero. «Herr Ferrero hat die Arbeitenden mit Bussen aus ihren Dörfern abgeholt, in die Fabrik gefahren und wieder zurückgebracht. Tausende. Täglich. Deswegen hat bei uns nicht wie anderswo die Stadtflucht stattgefunden. Das war sehr visionär», sagt Pietro Colla, während wir in Richtung Piazza Savona trotten. Die Albinesi haben sie in Piazza Ferrero umbenannt.
Aber nicht so schnell, nicht so schnell. «Zuerst gehen wir noch in eine Drogerie», sagt Pietro. Wir sind Fragezeichen. «Das war eine Drogerie, sie sieht nach wie vor so aus, aber die Familie hat sich der Zeit angepasst und verkauft heute auserwählte Delikatessen», schwärmt er, und schon stehen wir mitten im alten Laden Enoteca Confetteria Carosso. Hinter der tiefen Theke steht ein älterer Herr, der in aller Seelenruhe und mit einer Engelsgeduld Schokolade-Tartuffi verpackt. Der Signore heisst Luigi Carosso. 97 Jahre alt. Er hat das Geschäft gegründet, heute leiten es sein Sohn Walter und dessen Frau Nadia. Auch hier sollte die Unesco Hand bieten. Die Weine der Familie Colla? «Sie folgen keinen Moden und Tendenzen. Sie bleiben sich treu. Echt und ehrlich. Nicht fürs wandelnde Wohlgefallen einer unverständigen Kundschaft gemacht, sondern mit einer wiedererkennbaren, klaren Haltung», sagt Walter Carosso. «Mir gefällt, dass ihr nichts erzwingt», sagt er noch zu Pietro, dann müssen wir weiter zum wichtigsten Platz für Geniesser.
Grossartig, diese Auswahl. Und von allem nur das Beste. Dafür sorgt die Familie Carosso mit viel Leidenschaft und Demut. Vater Luigi, 97, stand bei unserem Besuch höchstpersönlich hinter dem Tresen und bediente die Kundschaft.
Via Vittorio Emanuele 23, Alba
+39 0173 440600
carosso.it
Einst Drogerie, heute Delikatessenladen:
Luigi Carossos Enoteca Confetteria.
Auf der Piazza Elvio Pertinace findet seit 2010 an den Wochenenden zwischen Mitte September und Mitte November der Mercato della Terra di Alba statt. Ein Slow-Food-Bauernmarkt. «Pertinace war ein römischer Imperator aus Alba. Man holte ihn nach Rom, um die Römer zu moralisieren. Das tat er drei Monate lang, dann haben sie ihn kurzerhand umgebracht», erzählt Colla und lächelt. Die Römer moralisieren. Das klingt noch heute wie ein Witz. Auch lustig, die angesagteste Wein-Degustations-Bar der Stadt, am hinteren Ende der besagten Piazza, die fest auf römischem Fundament steht. De Gustibus «Wir haben am 14. September 2019 eröffnet», sagt Alessandro Lorusso, der auf 40 Quadratmetern für seine Gäste thematisch geordnete Weine der Region mit sehr viel Fachkenntnis und Sachverstand mit kleinen «Plättli» kombiniert. Salumi. Käse. Trüffelsardinen. Alles Auserwählte, nur vom Feinsten. Auch unter den Weinen echte Trouvaillen, wie etwa der Monfortino 2013 von Conterno. Der Versuchung darf widerstanden werden, dennoch geben wir ihr mit einem Vino Spumante namens Pietro Colla Extra Brut nach. «Das bin nicht ich», sagt Pietro Colla subito. Auf der Etikette ist sein Grossvater, Baujahr 1894, verewigt. «Als er 15 Jahre alt war, hat er zu arbeiten begonnen, unter anderem lernte er im Hause Gancia, wie man Schaumweine auf traditionelle Weise herstellt. Das hat er sein Leben lang gemacht, und nach seiner Pensionierung hat er einfach weitergearbeitet, acht Stunden pro Tag. Bis er 92 war», erzählt Pietro Colla voller Stolz und Wehmut. Eine Persönlichkeit, und der Schaumwein, der aus Pinot Noir und zu zehn Prozent auch aus Nebbiolo besteht, erweist seinem Namensgeber alle Ehre.
Auserwählter Aufschnitt aller Arten, Käse und Delikatessen, geschmackvoll serviert auf kleinen Brettchen und jeweils mit den dazu passenden Weinen. Alessandro Lorusso erklärt leidenschaftlich gerne jedes Produkt und jeden Wein.
Piazza Elvio Pertinace 2, Alba
+39 333 6717049
Vom neuen Lokal zieht es uns in die älteste Osteria von Alba, Osteria Italia, an den Mittagstisch der Köchin Sara Borsa, die 23 Jahre alt ist und das historische Restaurant im Juni 2019 wiedereröffnet hat. «Schon als kleines Mädchen kam ich hierher und habe in der Küche mitgeholfen», erzählt sie, und dort steht sie auch heute noch am liebsten und frittiert frische Steinpilze oder zelebriert die urtypische Regionalküche. «Künftig will ich mutiger werden und das Niveau anheben», sagt sie entschlossen, aber zuallererst wolle sie den Eingesessenen beweisen, dass sie die Tradition verstanden habe, bevor sie Produkte anbiete, die man hier sonst nicht so auf den Teller bekomme. «Percebes, zum Beispiel», das sind Felsen-Entenmuscheln, die man in Barcelona gerne mag.
Die älteste Osteria von Alba, etwas ausserhalb der Stadt gelegen. Ein historischer Ort, an dem einst Kriegsgefangene und Widerstandskämpfer ausgetauscht wurden. Heute isst man hier dank der jungen, mutigen und dennoch zurückhaltenden Sara Borsa wieder einfach und hervorragend.
S. Rocco Seno D’Elvio 6, Alba
+39 0173 286942
osteriaitaliadasara.it
Nicht weit weg, nein, nicht von Barcelona, sondern mehr oder weniger oberhalb der Osteria, befindet sich die Cascina Drago, Weingut der Familie Colla, wo Tino Colla, der Vater von Pietro und Bruder des 2019 verstorbenen Beppe Colla, in seinem Büro sitzt und sagt: «Wir versuchen hier alles original zu erhalten, wir bauen nichts Neues, wollen nichts Modernes, sondern alles so klassisch und original wie möglich beibehalten.» Kein Wunder, denn das Gut, das im Jahre 1721 von einer Familie Degiacomi aus dem Veltlin gegründet wurde, hat den Lauf der Zeit bisher ganz gut überstanden. Hier wurde noch bis 2017 der legendäre Bricco del Drago, wohl der erste Super Vino da Tavola (aus 85 Prozent Dolcetto und 15 Prozent Nebbiolo) vinifiziert. Dann entschied sich die Familie für den Neuanfang statt für den Ausbau des uralten Gutes. «Dort drüben», sagt Pietro, «auf der Kuppe des Hügels, in Madonna di Como, im Gebiet der Gemeinde Alba, haben wir unsere Cascina Bompè eingerichtet. Dort geht jetzt alles viel einfacher», sagt er. Doch der Abschied von hier bleibt schwer.
Lebende Winzerlegende:
Tino Colla, Vater von Pietro und Bruder des 2019 verstorbenen Beppe Colla, auf seinem Weingut Cascina Drago.
«Wir gehen zu einem Freund meines Vaters», sagt Pietro. Zu einem, der sein Traumleben lebt. Silvio Pistone. Er ist Lebenskünstler. Hyperaktiver. Denker. Bäcker. Trüffelsucher. Urmensch. Sammler. Trödelhändler. Storyteller. Schafhirte. Melker. Käser. Geniesser. Mit seiner Familie bewohnt er im Niemandsland ein kleines Bauernhaus, Cascina Pistone Formaggio, das er zu einer Art begehbarem Slow-Foodorama umgestaltet hat und wo er seit zehn Jahren auch Besuch aus aller Welt zulässt, also empfängt. David Howell Ewans war da. Der Gitarrist der irischen Band U2, The Edge, wollte dann angeblich fast nicht mehr weg. Stundenlang könnte man Silvio Pistone zuhören, wenn er von seinen Schafen erzählt, wie er sie hält, wie er ihren Käse verarbeitet, wie man richtiges Brot bäckt, wie er die alten Rezepte der frischen Käse wiederaufleben lässt und wie der frische Käse altert. Silvio Pistone ist ein Original. Seine Käse sind zart und delikat, derart filigran und dennoch voller Geschmack. «Käsen kann man nicht im Internet lernen», sagt er. Schafe verstehen auch nicht. Sie sind sein wahres Betriebsgeheimnis. «Die Tiere müssen sich wohlfühlen», sagt er, und wenn er zu ihnen geht, merkt man, dass sie ihn mögen. 13 wuschelige Pecore delle Langhe, so nennt sich die vom Aussterben bedrohte Rasse, schauen ihn im Stall erwartungsvoll an.
Wie er zum Käse gekommen ist? Eine natürliche Antwort. «Käse gehört zu meiner Ernährungsgeschichte, genau wie Tomaten und Bruschetta. Um neue Geschmacksbilder zu erfinden, kann ich immerfort weitertüfteln und spielen», sagt er, mittlerweile sei er bei 40 Rezepturen angelangt. Aber auch da schmeckt jeder Käse immer ein bisschen anders. «Je nach Luftfeuchtigkeit, je nach Saison, je nach Temperatur und Alter», sagt er begeistert. Niemals würde er Gewürze einsetzen. «Wenn du Trüffel willst, dann legst du Trüffel auf den frischen Käse und in drei Stunden isst du den Käse. Wo ist das Problem?», fragt er, und natürlich kommt auch hier wieder die Frage nach dem Wein. Dolcetto müsse es sein. «Passt immer», sagt er trocken, dann sollten wir langsam, aber sicher zu unserer letzten Station aufbrechen.
Lebt sein Traumleben: Käser Silvio Pistone.
Silvio Pistone ist ein Tausendsassa. Bei ihm lernt man nie aus, und die Käse, die er ausschliesslich aus der Rohmilch seiner 13 Schafe herstellt, sind Ereignisse. Ein Besuch in seinem Universum lohnt sich, auch wenn man Schafskäse gar nicht mag.
Via Alba 14, Borgomale
+39 0173 529285
cascinapistone.it
Leidenschaftlicher Koch: Gianluca Bosio.
Es ist dunkle Nacht geworden, und uns zieht es noch tiefer in die Langhe, Richtung Berge hinein, zu Gianluca Bosio und seiner Frau Cristina in die Piola , im Dörfchen Arguello. Erstaunlich, hier wird es wegen der Grenznähe etwas ligurisch, auch wenn es draussen alles andere als ligurisch aussieht. «Huhn, Kaninchen, Sardellen, Kabeljau, das ist Teil unserer Tradition», sagt er, und er erklärt, dass die berühmte Thunfischsauce, die zum dünn aufgeschnittenen Kalbfleisch gereicht wird, hier nicht auf der Basis von Mayonnaise hergestellt wird, dass vermehrt Kapern eingesetzt werden, und, und, und. Am besten also, man lässt ihn einfach machen. «Und», sagt Pietro ganz zufrieden: «Die beiden bieten auch gereifte Weine an.» «Un vino storico», sagt er und er meint damit «seinen» Bricco del Drago, der in der Schweiz bereits vor 40 Jahren von Bindella nicht nur importiert, sondern vor allem bekannt gemacht wurde. Bricco, so Colla, bedeute etwa so viel wie «Spitze des Hügels», und der Bricco del Drago sei der erste Wein, der diese Bezeichnung getragen habe. Viele Winzer sind diesem Beispiel gefolgt. Der erste Super Vino da Tavola war das, damals wie heute, denn der Dolcetto sei es, der ihm die Struktur verleihe, und die 15 Prozent Nebbiolo aus derselben Lage seien für Finesse und Eleganz verantwortlich. «Ein ausserordentlich alterungsfähiger Wein», sagt Pietro Colla. Dann hebt er sein Glas mit dem 2009er und freut sich, dass auch hier, bei Gianluca und Cristina, alles zusammenpasst.
Gianluca und Cristina Bosio sind ein gutes Team. In ihrer Osteria bieten sie gereifte Weine der Region und eine regionale, verspielte und auch ligurisch interpretierte Küche an. Die Grenze zu Ligurien liegt auch geografisch nicht sehr weit.
Via Principale 5, Arguello
+39 335 224850
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