Das schwere Holztor öffnet sich mit einem tiefen Knarren. Kühle Frische schlägt uns entgegen. In die Nase steigt der Geruch von altem Keller, feuchtem Holz, Rotwein. «Che profumo, no?», Marcello Crini lächelt seelig. Zu den Schätzen von Badia a Passignano führt an ihm kein Weg vorbei. Denn er ist nicht nur einer der wenigen, die einen Schlüssel zur Cantina besitzen. Er ist seit 25 Jahren auch Patron der gutseigenen Osteria di Passignano: moderne Toskana-Küche, radikal saisonal, ein Michelin-Stern. «Sämtliche Gemüse, die wir verarbeiten, kultivieren wir hier im Hof. Also keine Zucchiniblüten zu Weihnachten.» Und: Nur wer in der Osteria eine Tischreservation hat, darf auch in den Chianti-Classico-Reifekeller.
Wir stehen in einer Cantina aus dem Jahre 395, mächtige Mauern, die Gewölbedecke über uns ist schwarz gefleckt. «Wir haben hier eine konstante Luftfeuchtigkeit von 90 Prozent und das ganze Jahr über kaum Temperaturschwankungen», sagt Marcello Crini. Das sind ideale Bedingungen für Antinoris Solitär Badia a Passignano, der hier in den gut 2500 französischen und ungarischen Barriques seiner Vollendung entgegenschlummert. Der Wein ist quasi das Filetstück des Chianti Classico: einer der wenigen Gran Selezioni, sortenrein aus Sangiovese gekeltert. «Secondo me l’espressione più elegante del Sangiovese» – eleganter gehe Sangiovese nicht. Gran Selezione ist die höchste Qualitätsstufe der Chianti-Classico-Weine, das Gesetz schreibt seit 2013 vor: nur gutseigene Trauben von den besten Weinbergen und mindestens 30 Monate Ausbau im Holz.
Die Sangiovese-Reben für den Badia a Passignano wachsen auf kalkhaltigen Böden, auf der anderen Seite der Hügelkuppe liegt Tignanello. «Eine staubige Naturstrasse verbindet die beiden Tenute. Und weil wir hier keine Cantina für die Weinbereitung haben, keltern wir drüben», sagt Marcello Crini. Für den Ausbau im Holz kommt der Wein wieder zurück auf die Abtei, die Antinori seit 1987 vom Vallombrosaner-Orden pachtet. «Der Keller hier ist schön zum Anschauen, aber unpraktisch zum Arbeiten. Denn bei uns ist alles Handarbeit.» Um eine 225-Liter-Barrique zu verschieben, den Wein umzuziehen, brauche es bis zu fünf Leute. Dafür atmen die alten Gemäuer Geschichte: «Schon Galileo Galilei war hier, und der grosse Domenico Ghirlandaio verewigte sich oben im Kloster mit seinem weltberühmten Fresko ‹Das letzte Abendmahl›. Für uns Florentiner keine grosse Sache.» Marcello Crinis Augen blitzen. «Tja, was sollen wir machen? Unser Land ist so reich an Kultur.» Schallendes Gelächter.
Marcello Crini
Patron der gutseigenen Osteria di Passignano
Ein schwarzer Hahn bürgt für Topqualität: der Gallo nero auf dem Flaschenhals der Chianti-Classico-Weine.
Chianti Classico ist nicht gleich Chianti. Letzteres erstreckt sich über die halbe Toskana. Historische Heimat ist jedoch das Chianti Classico zwischen Florenz und Siena, das Cosimo III., Grossherzog der Toskana, 1716 offiziell als solches abgrenzte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als alle Welt Chianti trinken wollte, begannen die Winzer, auch ausserhalb der eigentlichen Chianti-Classico-Zone Wein herzustellen. Für die Marke ein Super-GAU. Die zweite Misere folgte in den 1960er Jahren, nachdem in Italien die «mezzadria», die Halbpacht, abgeschafft wurde. Zwar waren die Bauern fortan von ihren Grossgrundbesitzern befreit, doch fehlten ihnen die Mittel, die Höfe zu kaufen, die sie zuvor gegen die Hälfte des Ertrags von ihren Besitzern gepachtet hatten. Die Folge: Landflucht, leerstehende Höfe, verwaiste Dörfer, Armut. Gefundenes Fressen für Geschäftsleute aus der Stadt und ausländische Investoren, die die Weingüter kauften und die Produktionsmengen hochschraubten. Masse statt Klasse. Der Wein in der damals populären Korbflasche wurde dünn und dünner.
«Die Qualitätswende kam mit Marchese Piero Antinori. Er glaubte an das Potenzial des Sangiovese. Und ans Terroir des Chianti Classico», erzählt Marcello Crini. Piero Antinori ist der Patron der wohl wichtigsten Winzerfamilie Italiens. Ein Visionär. Anfang der 1970er Jahre experimentierte der Marchese im Herzen des Chianti mit Sangiovese. Er liess den Wein in der Barrique reifen und strich den damals vorgeschriebenen Weissweinanteil aus der Cuvée. Sein Tignanello, Jahrgang 1971, schlug ein wie eine Bombe. Doch der Wein durfte laut Gesetz nicht mehr Chianti Classico heissen, und so brachte er den Spitzenwein als simplen Tafelwein auf den Markt. Die Geburtsstunde der Supertoskaner.
Dies hatte auch Einfluss auf den traditionellen Chianti Classico. Denn auch andere Winzer schenkten dem lokalen Sangiovese wieder mehr Beachtung, experimentierten mit internationalen Sorten wie Cabernet und Merlot, reduzierten die Erträge. Die Qualität des Chianti Classico stieg ab den 1980er Jahren kontinuierlich an, doch entsprachen auch die Chianti-Weine nicht mehr den ursprünglichen Produktionsvorschriften. Ab 1984 passte das Consorzio Vino Chianti Classico die Gesetze nach und nach an. Heute gilt: mindestens 80 Prozent Sangiovese, internationale Varietäten erlaubt, weisse Sorten verboten. Qualitätssiegel auf dem Flaschenhals ist der berühmte Gallo nero, der schwarze Hahn. 2013 wurden Annata und Riserva um eine dritte Qualitätsstufe ergänzt: Gran Selezione, die Spitze der Pyramide.
So muss eine Gran Selezione sein: klar, gradlinig und präzise. Aromen von reifen Kirschen, frische Blüten, Gewürznelken und Zartbitterschokolade. Lange nachklingendes, saftig-elegantes Finale. Grandios!
Duftet intensiv nach schwarzen Beeren, dunkler Schokolade, Veilchen. Im Gaumen schmeichelhaft und lebendig mit der typischen Sangiovese-Saftigkeit und präsenten, perfekt eingebundenen Gerbstoffen.
Klares Bouquet mit Noten von reifen Kirschen, Brombeeren, Leder, ein Hauch Pfefferminze. Im Gaumen gehaltvoll und herrlich komplex mit fein geschliffenen Tanninen und Aromen von Schokolade und Holz.
«Die Erfindung der Supertoskaner war eine Revolution, die Renaissance des Chianti Classico eine Evolution», sagt Renzo Cotarella, CEO und Chefönologe von Antinori. Er geht seit 40 Jahren an der Seite von Patron Marchese Piero Antinori und ist längst selbst eine Legende. Und: Er hat die Qualitätswende im Herzen der Toskana ganz entscheidend mitgeprägt. «Tignanello war der Beweis, dass wir im Chianti Classico grosse Weine produzieren können – damals in den 1970er Jahren eine völlig neue Denkweise. Zu dieser Zeit betrug der Weinkonsum in Italien mehr als hundert Liter pro Kopf und Jahr. Die Winzer wollten also vor allem Wein herstellen. Ob der auch gut war, stand auf einem anderen Blatt.»
Mit dem Verzicht auf weisse Trauben und der Einführung roter internationaler Sorten brachte Marchese Piero Antinori das ursprüngliche Chianti-Gebiet zurück auf die Weinlandkarte. Doch anders als bei den Supertoskanern mit ihrem starken Fokus auf internationale Kompositionen – Sassicaia ist Cabernet in Purezza, im Tignanello fliessen 30 Prozent internationales Blut – wollte er für den Chianti Classico an der historischen DNA festhalten. Und das hiess Sangiovese. «Internationale Sorten sind wunderbar, haben aber auch die Tendenz, den filigranen Sangiovese etwas zu überdecken», sagt Renzo Cotarella. Er ist sogar der Meinung, dass die heute erlaubten 20 Prozent internationale Trauben für einen guten Chianti Classico zu viel sind.
Renzo Cotarella
CEO und Chefönologe von Antinori
Ein guter Chianti Classico? Für Renzo Cotarella ist er reich an Geschmack, ohne schwer zu sein. «Es ist ein Wein mit lebendiger Eleganz, der die charakteristische Frucht der Sangiovese-Traube bewahrt. Ein Wein mit Anmut.» Und auch wenn der Chianti Classico mit Blick auf die lange Geschichte ziemlich alt sei, bleibe er in seinem Stil jung und modern. «Seine Intensität, Lebendigkeit, Mineralität ist wirklich einzigartig. Ich möchte nicht sagen, dass der Chianti Classico der beste Ausdruck des Sangiovese ist, aber er hat sicher eine Modernität, die in der toskanischen Sangiovese-Landschaft einzigartig ist.» Darum ist er auch ein leidenschaftlicher Verfechter der neuen Qualitätsstufe Gran Selezione und dem nächsten grossen Schritt, der aktuell zur Debatte steht: der Einführung von Gemeinde-Klassifizierungen nach französischem Vorbild.
«Das Chianti Classico ist ein Gebiet, das in Bezug auf die verschiedenen Bedingungen, auf Klima, Höhenlage, Exposition, sehr komplex ist. Mit der Gemeinde-Klassifizierung hätten wir die Möglichkeit, verschiedene Chianti Classici zu produzieren, alle basierend auf Sangiovese, aber mit völlig unterschiedlichen Stilistiken. Kurz: Weine mit Charakter und Seele.» Es gebe nur ganz wenige Gebiete auf der Welt, die dazu in der Lage seien, Burgund, Barolo – und eben Chianti Classico.
Trotz bewegter Geschichte stellten die Winzerfamilie Antinori und ihr CEO Renzo Cotarella das Bekenntnis zum Chianti Classico nie in Frage. «Es ist die Region, in der Antinori vor 600 Jahren geboren wurde. Es ist unsere Heimat.» Dass es der Florentiner Winzerfamilie, die Weingüter auf der ganzen Welt besitzt, wirklich ernst ist, beweist auch die 2012 eröffnete Kellerei Antinori nel Chianti Classico in Bargino, 30 Autominuten von Florenz entfernt. Ein Architektentraum aus Terracotta, Glas und Cortenstahl – natürliche Materialien, erdige Farben. Die spektakuläre Cantina ist fast komplett im Boden versenkt, eine Kathedrale, monumental. Der Bau dauerte sieben Jahre. Hier befindet sich das Büro von Renzo Cotarella, hier arbeiten die Verwaltungsteams der Firma. Und hier reifen auch die beiden anderen Chianti-Classico-Perlen im Portfolio von Antinori: Pèppoli und Villa Antinori Chianti Classico Riserva.
Doch zurück zum Gran Selezione Badia a Passignano und zu Marcello Crini. Was er denn so besonders möge an «seinem» Sangiovese. Für ihn hätten zu viele internationale Weine denselben Geschmack: dunkle Farbe, Cabernet-Aromatik. «Sangiovese jedoch ist nicht schwarz wie Tinte, sondern hell und leicht.» Una sfida – eine Herausforderung. Ein Wein mit Anmut. Oder wie er so schön sagt: «L’espressione massima del Chianti Classico.»
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