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Urs Heller, lassen Sie sich je etwas nach Hause liefern?

Nein. Wenn wir Gelegenheit haben, zu Hause zu essen, gehen wir – ganz wie früher – auf den Markt einkaufen und kochen selber.

Der schnelle Konsum passt in unseren durchgetakteten Alltag. Haben Delivery-Konzepte Zukunft?

Selbstverständlich braucht’s die, und selbstverständlich gibt es auch sehr gute Beispiele. Möglicherweise ist dies eine Generationenfrage, aber ich persönlich gehe lieber schnell
entschlossen in ein Restaurant, bestelle einen Eingänger, den Espresso und die Rechnung und bin in 45 Minuten wieder draussen. Das dauert in etwa gleich lang wie anrufen, warten …

Dann wird die bediente Gastronomie überleben?

In einer Zeit, wo die Leute im Normalfall streng arbeiten, ist der Restaurantbesuch die wahrscheinlich längste Zeit im Wachzustand, die man zusammen mit dem Partner, mit Freunden verbringt. Es ist eine gute Gelegenheit, sich zu treffen und ein, zwei Stunden für das Visavis da zu sein. Das wird nicht verschwinden.

Wohin gehen die Strömungen im Markt?

Klassiker werden sich zurückmelden. Gerade bei der italienischen Küche sollte man nicht zu weit suchen, Stichwort Nonna-Küche. Klar kann man die Gerichte etwas leichter machen. Die Cerea-Brüder in Bergamo sind diesbezüglich meine Benchmarks. Sie haben alle Punkte und Sterne dieser Welt und sind doch sehr authentisch, sehr italienisch. In der französischen Küche gibt es den Begriff «New French», daran glaube auch ich: Klassiker, die einst schwer und kompliziert waren, werden neu definiert, entschlackt, entspannt.

Auch Nachhaltigkeit ist ein grosses Thema …

Die Leute wollen regionale Produkte und wissen, wo die Ware herkommt. Dafür sind sie auch bereit, ein paar Franken mehr zu bezahlen. Ich glaube, dies ist eine riesige Chance für die Gastronomen. Denn statt zu fragen: «War’s recht?», kann man eine Geschichte erzählen. Das macht den Beruf spannender – und auch den Aufenthalt im Restaurant. Und es wertet die Rolle der Mitarbeitenden auf: nicht bloss Teller bringen und abräumen, sondern die Philosophie des Küchenchefs weitertragen.

Werden wir uns in Zukunft jemals fleischlos ernähren?

Nein, zumindest mir wird das wohl erspart bleiben. Wie es in den nächsten Generationen aussieht, weiss ich nicht. Aus meiner Sicht geht der Weg eben nicht ins Entweder-oder, sondern man ernährt sich an einem Tag fleischlos und beisst am nächsten freudig in einen Burger. Selbstverständlich wird sich der eine oder andere vegetarische oder gar vegane Gang in einem Menü halten, ich denke an Spitzenköche wie Heiko Niederer oder Tanja Grandits, die machen das grossartig. Leute aber, die aus gesellschaftlicher Überzeugung so strikt sind – gesundheitliche Gründe immer ausgenommen –, sind mir etwas unheimlich.

Schon heute machen Spezialwünsche die Köche halb wahnsinnig. Was tun?

Wir müssen den Gast darauf aufmerksam machen, dass er dies doch einfach gleich bei der Tischreservation anmerken soll. Dann hat der Koch eine faire Chance, den Wunsch zu erfüllen – oder die Reservation abzulehnen. Ich erwarte von jedem GaultMillau-Koch, dass er aus dem Stand ein schönes vegetarisches Menü kochen kann. Aber ohne jede Vorwarnung um zehn nach zwölf einmarschieren und am Tisch sagen: «Übrigens, wir sechs essen vegan», das ist technisch einfach nicht möglich.

Welche Chance geben Sie einer Saftbegleitung zum Mehrgänger?

Wenn sie leidenschaftlich ausgewählt wird – eine Tanja Grandits macht dies bis zur Perfektion –, dann ist das eine gute Alternative. Durchsetzen wird sich alkoholfrei sicher
nicht. Ich glaube eher, dass wir in der Schweiz dazu kommen müssen, gute Weine auch glasweise auszuschenken. Ich habe Mühe, über Mittag einfach so eine Flasche zu zweit zu trinken – meine Leistung am Nachmittag wird nicht besser. Mein Traum ist eine offene Magnum von einem wirklich guten Wein. Wenn der Trend schon zu «Sharing Plates» geht, warum dann nicht auch «Wine to Share»?

Wo steht die Schweizer Gastronomie im internationalen Vergleich?

Ich sage immer: Es gibt an jeder Autobahnausfahrt ein GaultMillau-Restaurant. Das kann man nicht von jedem Land behaupten. Daneben hat sich eine neue Szene von unkomplizierten, lässigen Beizen entwickelt – wir fangen diese unter «GaultMillau Pop» auf. Beizen ohne weisse Tischtücher, ohne Punkte, dafür mit gutem Konzept, Begeisterung und Qualität. Eigentlich erstaunlich, dass Schweiz Tourismus damit nicht offensiver Werbung macht.

Was macht die junge Gastrogeneration anders?

Sie spart dort, wo es nicht weh tut: Sie setzt auf flache Hierarchien und bringt den Gast mit einem gewissen Charme zur Zwangsverpflegung, indem sie bestimmt, was es zu essen gibt. Auch etablierte Restaurants müssen dieser Szene dankbar sein, denn sie führt neue Leute an die Gastronomie heran. Wer fünfmal ohne Tischtuch gut gegessen hat, geht beim sechsten Mal vielleicht in ein Restaurant mit weissem Gedeck.

Was halten Sie von Bewertungsportalen wie Tripadvisor?

Die beste Bewertung ist ja immer noch der Tipp eines Menschen, den man kennt. Ich verlasse mich auf GaultMillau und Michelin, dies sind meine Benchmarks in anderen Ländern. Oder ich frage die Köche, wo sie mit der Familie essen gehen. Tripadvisor verfolge ich fasziniert, kann mir aber in den seltensten Fällen ein Urteil bilden: Die Bewertungen sind sehr oft nichtssagend, flapsig, widersprüchlich. Aber ich habe nichts gegen Tripadvisor, denn dass sich die Leute mit Essen und Wein auseinandersetzen, ist immer eine gute Nachricht.

Sind gedruckte Gourmetführer überhaupt noch zeitgemäss?

Es wäre schon von Vorteil, wenn Print-Guides auch eine Onlineversion hätten. Wie lange wir unser Buch noch drucken werden, weiss ich nicht. Man muss Informationen
dorthin liefern, wo sie der Kunde will. Wir sind frühzeitig auf Online umgestiegen, unser GaultMillau-Channel ist ein Riesenerfolg. Unsere besten Partner sind die Köche, die das Tool angenommen haben, mitmachen, Superrezepte liefern. Es ist beeindruckend, wie tiefenentspannt die jungen Köche vor der Kamera sind. Sie und wir leisten einen Beitrag, dass der Beruf an Coolness gewinnt.

Essen ist heute Lifestyle: Fluch oder Segen?

Ein Segen! Und für die Gastronomie die erste gute Nachricht seit langem: 0,5 Promille und Rauchverbot waren nicht gerade umsatzfördernd. Heute haben wir für alle Beteiligten eine absolut hervorragende Situation. Alle Generationen interessieren sich fürs Essen, auch die meisten Einkommensklassen. Was mich besonders freut, ist der Frauenanteil. Als ich als GaultMillau-Chef anfing, war die Schweizer Gastronomie wie ein Gentlemen’s Club in London, es gab kaum weiblichen Gäste, vielleicht mal bei einer Taufe. Heute machen Frauen auf unserem Channel 55 Prozent aus. Und auch die Jungen sind ungemein wichtig, man muss sie einfach anfixen. Es gibt ein paar Köche, die den jungen Leuten für hundert Stutz ein schönes Menü machen, das ist gut! Denn wenn sie einmal entdeckt haben, wie gut gutes Essen sein kann, werden sie etwas Geld sparen und wiederkommen.
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Urs Heller ist Chefredaktor des Gourmetführers «GaultMillau» Schweiz. Er und sein Testerteam krönten im jüngsten Guide 2020 Giuseppe D’Erricos Kochkünste im Zürcher Ristorante Ornellaia mit 17 Punkten! Je 14 Punkte gingen an unsere Ristoranti Barbatti, Bianchi und Conti, 13 Punkte ans Basler Chez Donati. Übrigens: Restauranttipps gibt’s seit 2017 nicht nur im berühmten gelben Buch, sondern auch online: gaultmillau.ch