An seinem 75. Geburtstag hat Rudi Bindella die Geschäfte an seinen Sohn Rudi jr. übergeben. Ein Gespräch mit Vater und Sohn über Werte, Loslassen und den Faktor Mensch.
Die erste Generation schafft das Vermögen, die zweite verwaltet es, die dritte studiert Kunstgeschichte. Bindella ist in der vierten Generation angelangt. Wie haben Sie das geschafft?
Rudi Bindella (sen): Je älter unsere Söhne wurden, desto mehr habe ich sie ins Geschäft mitgenommen, um sie schrittweise einzuführen. Wir waren oft zusammen unterwegs, in den Restaurants, auf dem Weingut.
Rudi Bindella jr. (jun): Wir sind da, weil wir Freude an unserem Beruf haben. Freude am Leben!
Doch ist es eine Tatsache, dass einige Familienunternehmen am Generationenwechsel scheitern.
sen: Das Problem ist, wenn man mehrere Kinder hat: Jene, die nicht interessiert sind, möchten ausbezahlt werden, das schwächt die Unternehmung. Die anderen möchten das Geld in der Firma lassen. Es ist nicht einfach, hier eine Lösung zu finden. Im Idealfall hätte man nebst dem Geschäft noch Privatvermögen, dann könnte man damit einen Ausgleich schaffen. Das haben wir nicht. Bei uns ist quasi das ganze Vermögen im Geschäft.
Gibt es eine Lösung?
sen: Wichtig ist eine klare Führung. Co-Präsidien sind anspruchsvoll in der Umsetzung. Rudis Weg der Gesamtführung ist der steinigere: Er kann zwar führen und entscheiden, muss aber die anderen kompensieren. Doch lohnt es sich; ich habe es selbst erlebt: Meine beiden Schwestern waren nicht am Unternehmen interessiert. Unsere anderen Söhne haben sich für einen eigenen Weg entschieden.
Haben Sie Voraussetzungen für die Nachfolge festgelegt?
sen: Wir hatten schon Vorstellungen, dies in einer Charta festzuhalten und so umzusetzen, das scheint mir sehr anspruchsvoll. Wichtig ist zuallererst die Persönlichkeit: charakterliche Integrität, Verlässlichkeit, Ehrlichkeit, Loyalität – man muss in dieser Funktion ja vor allem mit Menschen umgehen können. Und dann sollte man auch branchenkompetent sein. Ob es funktioniert, sieht man erst auf der Zeitachse.
jun: Ich habe vor meinem Eintritt in die Firma verschiedene Erfahrungen im Ausland gemacht, bei der Kellerei Torres in Barcelona, bei Masi im Veneto und bei einem grossen Prosecco-Produzenten. Danach durchschritt ich zwei gute Stationen in der Schweiz, Coca-Cola und Kraft Foods. Mein Schlüsselerlebnis war 2009 die Eröffnung der Casa-Bar im Zürcher Niederdorf. Ein geniales Jahr, ich konnte ausprobieren, was ich wollte. Da wurde meine Leidenschaft für die Gastronomie geweckt!
sen: Ich selbst wäre auch gerne noch fremdgegangen, aber mein Vater bekam gesundheitliche Probleme und sagte: «Komm jetzt ins Geschäft, ich brauche dich.» Wir konnten dann noch sieben Jahre Seite an Seite arbeiten.
War es für Sie immer klar, dass Sie die Firma übernehmen?
sen: Für mich ja. Ich wollte das Gleiche tun wie mein Vater; er war mein Vorbild. Wäre er Roter-Pfeil-Führer gewesen, wäre ich heute auch Roter-Pfeil-Führer. Aber ich habe oft gehört: «Schön, dass du das machst, aber so einen wie deinen Vater wird’s nie mehr geben.»
jun: (lacht) Das höre ich natürlich nie!
sen: Ich wäre stolz, wenn Rudi es besser macht als ich. Es spielen sehr viele Faktoren mit: der gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Kontext, eine klare Vision, Fleiss, harte Arbeit, Disziplin und Durchhaltevermögen. Man kann die Unternehmung nicht vom Golfplatz aus führen. Und das noch – man muss auch ein bisschen Glück haben.
Welche Werte teilen Sie?
jun: Respekt, Verantwortung, Vertrauen … Ich stehe voll und ganz hinter den Werten, die mein Vater im Bindella-internen Leitfaden «Unser Weg» niedergeschrieben hat. Gewisse Werte gewichte ich vielleicht etwas anders, beispielsweise gute Stimmung und Humor. Ich habe es gerne lustig!
sen: Dass du es gerne lustiger hast als ich, das stimmt überhaupt nicht! (lacht) Du bist im Umgang vielleicht etwas un- komplizierter und ungehemmter, aber das hat auch mit der heutigen Generation zu tun. Früher, mit 20, wenn der Lehrer reinkam, hatten wir Herzklopfen! Autoritätsgläubigkeit und Disziplin, das wurde uns eingemeisselt. Bei den Jungen ist gottlob alles etwas lockerer.
Rudi Bindella jr., Ihr Vater ist ein Patron alter Schule. Und Sie?
jun: Vielleicht findet man irgendwann einen moderneren Begriff, Patron wirkt für meine Generation etwas verstaubt. Aber ich mag die Werte, wofür ein Patron steht: Sicherheit, Stabilität. Das haben wir eindrücklich erlebt, als wir in der Pandemie zu zweit vor den Mitarbeitenden standen. Wir sind mit allem drin, als Personen, mit dem Kapital. Ein Manager-gesteuertes System ist da weniger glaubwürdig.
sen: Es gibt keinen Herrn Nestlé, keinen Herrn Credit Suisse. Ein Patron ist wie ein Fels in der Brandung. Théophile Alexandre Steinlen hat den Patron oft gezeichnet, eine kardinale Figur. Selbst wenn alles umkippt, er bleibt stehen.
jun: Die Zeiten werden ziemlich sicher nicht stabiler. Dementsprechend ist ein Fels in der Brandung – es kann auch eine Familie sein – ein gutes Zeichen. Bei all dem, was noch kommt, braucht’s Standhaftigkeit.
Die Pandemie war ein Prüfstein. Hat sie das zusammengeschweisst?
jun: Zusammengeschweisst waren wir schon zuvor. Aber es war eine gute Bewährungsprobe. Ich habe gestaunt, dass mein Vater zur Arbeit kam, obwohl Leute ab 70 hätten zu Hause bleiben sollen. Das fand ich super! (lacht) Es war eine gute Zeit, eine sehr prüfende Zeit. Das stärkt.
sen: Ich hatte eine Riesenfreude und fühlte mich stolz, als Rudi als erster Sohn auf die Welt kam, denn früher war es nicht klar, dass auch ein Mädchen die Firma weiterführen kann. Rudi und ich waren immer sehr verbunden; dazu gehörten auch Auseinandersetzungen. In solchen Situationen schafft Distanz wieder Nähe. Unsere Übereinstimmung ist eine sehr ehrliche.
Rudi Bindella jr., welche Themen beschäftigen Sie heute?
jun: Wichtig ist mir, dass das Team stark ist, die Leute arbeiten können und wollen, eine gute Stimmung verbreiten, dass man sie nicht aufwecken muss. Und dann gibt es natürlich verschiedene Blitze und Donner am Horizont: Inflation, Energiekosten, die steigenden Löhne. Sie sind eine Herausforderung für uns, insbesondere in der Gastronomie mit anspruchsvoller Kostenstruktur.
Rudi Bindella, waren das ähnliche Themen bei Ihnen?
sen: Mein wichtigstes Anliegen war, die verschiedenen Zweige mit guten Geschäftsleitungen zu besetzen – so wie sich Rudi jetzt auch Gedanken macht.
Und geopolitisch?
sen: Die politische und wirtschaftliche Situation war weniger komplex als heute. Der Konjunktur ging’s in den 1980er Jahren sehr gut. Erst Ende der 1980er, als die Sachwerte zusammenbrachen, hat uns das vor happige Prüfungen gestellt. Heute haben wir einen ganz anderen Kontext, mit Krieg, Pandemie, Inflation, Energiekrise. Es würde mich nicht erstaunen, wenn es drastische Umwälzungen gäbe. Und die Jungen, die sind sehr wohlstandsverwöhnt.
Wie meinen Sie das?
sen: Es kommt natürlich immer auf die Werte in der Gesellschaft an. Wenn man den Wohlstand einigermassen konsolidieren möchte, dann wird das nicht gehen, wenn die Leute weniger arbeiten.
Sie sagten vorhin: Es geht um den Menschen.
sen: Der Mensch muss passen, das merken wir immer deutlicher. Es ist wie in der Liebe: Es geht nur, wenn beide wollen. Beim Zusammenarbeiten ist es genauso. Wenn die Chemie nicht stimmt, dann funktioniert es eigentlich nirgendwo, weder in Freundschaften noch in der Ehe oder im Geschäft. Die Charakteranlagen, die jemand mitbringt, die sind gegeben, fachlich kann man sich weiterbilden.
jun: Bei der Rekrutierung neuer Mitarbeitenden führe ich mit jedem das Gespräch – in der Verwaltung und in der Gastronomie bis auf Stufe Geschäftsführung. Ich beurteile nicht primär die Fachkompetenz, das kann ich teilweise auch gar nicht, aber ich schaue, ob die Person zu uns passt. Ich bin überzeugt: Die Stimmung im Unternehmen ist das A und O.
Rudi Bindella, Sie vertrauen aufs Bauchgefühl und sagten auch schon: Businesspläne alleine spielen nicht immer die entscheidende Rolle.
sen: Wir sollten üben, uns auf unser Gefühl zu verlassen. Wenn man in ein Gespräch kommt, jemanden trifft, dann merkt man doch sofort, ob’s knistert oder nicht. Das muss man aber zulassen – und aus Fehlern lernen. Ich habe schon falsche Entscheidungen getroffen, aber die besten, die kamen spontan aus dem Bauch. Wenn wir beispielsweise beim Berner Kornhaus mit Tabellen gerechnet hätten, dann hätten wir gesagt: nicht anrühren! Doch ich war überzeugt, dass man in einem solch schönen Raum etwas machen kann. Wir haben teure «Lehrblätz» bezahlt und ein paar Jahre lang rote Zahlen geschrieben, bis es zum Tragen kam.
Und Sie, Rudi Bindella jr.?
jun: Ich bin vorsichtig, schaue mir die Zahlen genau an. Aber Tabellen sind immer eine Momentaufnahme. Es kommt noch so viel Unvorhergesehenes dazu, und oftmals kommt es besser. Da ticken wir gleich.
Wo möchten Sie, Rudi jr., Akzente setzen?
jun: Da und dort ist meine Handschrift bereits erkennbar, ein gutes Beispiel ist unser Restaurantkonzept Più. Oder die Marke Più Vino, mit der wir die Wein-Zielgruppe verjüngen. Zudem: Wenn Bindella in der ganzen Schweiz Wein liefert, können wir auch in der ganzen Schweiz Restaurants betreiben. Wie es in anderen Bereichen weitergeht, wird man sehen. Mit unserem Weinbau sind wir jetzt in der Toskana, aber Italien ist lang, und es gibt viele spannende Weingebiete. Wichtig ist: Wir sind mit der Marke Bindella mitten in Italien. Und das soll auch in Zukunft so bleiben.
Sie nennen die Unternehmung ihre «Famiglia». Warum?
sen: Das Menschliche ist uns das Wichtigste. Zusammenhalt, Zugehörigkeit, Sicherheit, Verlässlichkeit. Ich kenne keine bessere Gemeinschaft als die Familie – wenn sie funktioniert.
jun: Leute, die einfach nur die Arbeit verrichten ohne grosses Interesse, passen nicht zu uns. Das heisst nicht, dass man Tag und Nacht zur Verfügung stehen muss. Aber mir ist es wichtig, dass sich die Mitarbeitenden mit der Unternehmung verbunden fühlen.
Weshalb?
jun: Eine gute Stimmung ist für mich der Humus für produktives, erfolgreiches Arbeiten. Dafür muss man aber schon auch ins Büro kommen. Ein gewisser Teil Homeoffice kann sinnvoll sein, aber die Unternehmenskultur erlebt man nur im Geschäft.
Rudi Bindella, fällt Ihnen das Loslassen schwer?
sen: Es ist kein Loslassen, ich arbeite ja weiter. Es gibt so viele Details, die ich gerne pflege. Wir haben die Spielregel vereinbart, dass ich keine Entscheidung in der operativen Linie mehr habe, aber dass ich bei den wichtigsten Gesprächen dabei sein kann. Ich möchte mich einbringen und sie müssen mir zuhören – wie in der politischen Vernehmlassung. Ich möchte in der Debatte involviert bleiben.
Wie funktioniert das?
jun: In den letzten Jahren hatten wir Zeit, unsere Spielregeln im Alltag zu üben. Trockenschwimmen bringt nichts. Wir haben gesehen, wo es Reibereien gibt und was sich bewährt. Durch diese Erfahrungen sind wir gut gerüstet für die Zukunft. Wenn ich heute neu reinkäme, würde ich wohl Fehler machen, die ich jetzt bereits hinter mir habe.
sen: Bei der operativen Verantwortung gibt’s nur Schwarz und Weiss und sauber schneiden. Und es darf schon mal im Gebälk krachen, das ist kein Problem.
jun: Klar, in den fünf offiziellen Jahren und den vielen davor musste ich mich immer wieder beweisen. Man muss ja auch mal aus dem Windschatten treten.
Rudi Bindella, Sie sind bekennender Frühaufsteher. Bleiben Sie jetzt länger liegen?
sen: Auf keinen Fall! Ich bin überzeugt, ob man nun mit 50 oder 70 in Pension geht: Die beste Medizin ist weiterarbeiten. Ich stehe früh auf, weil ich das Leben auf der Erde nicht verschlafen möchte. Das kann ich dann im Himmel tun.
Rudi Bindella jr., Sie schmunzeln …
jun: Das war klar! Ich selber arbeite gerne lange und viel. Der Nachteil ist: Wenn wir am Wochenende mit Freunden ausgehen, dann bin ich früh müde – und meine Frau ärgert sich. (lacht)
Was wünschen Sie sich gegenseitig für die Zukunft?
jun: Weiterhin viel Erfolg – in allen Himmelsrichtungen. Ich bin wahnsinnig stolz auf diese Unternehmung.
sen: Ich wünsche Rudi Erfolg, Glück und Freude, an dem, was er tut. Und dass er unsere Vision weiterentwickelt. Die Herzlichkeit, die sich durch die ganze Unternehmung zieht, ist ein kardinaler Wert.
Interview erschien im Magazin #10, Frühling 2023