Diese Seite unterstützt Ihren Webbrowser (Internet Explorer) nicht. Für mehr Sicherheit und Geschwindigkeit wechseln Sie bitte zu einem aktuellen Browser.

Jetzt aktualisieren

Gemüsehändler Tiziano Marinello schläft zweimal. Vier Stunden in der Nacht, und dann am Vormittag nochmals zwei. Er ist jeden Morgen um vier auf dem Zürcher Engrosmarkt, dem grössten Gemüse- und Früchtemarkt der Schweiz. Seine Kunden sind Gastronomen wie Bindella. Und wir haben uns für einmal ziemlich früh aus den Federn geschwungen.

Schon von der Europabrücke aus ist die legendäre grün-rote Neonbeschriftung sichtbar, als leuchtender Farbklecks im schwarzen Nachthimmel. Engrosmarkt steht da in grossen Lettern, flankiert von zwei Kopfsalaten in Grün und einer roten Tomate in der Mitte. Retrocharme. Es ist 4.15 Uhr, die Stadt schläft tief und fest. Nur auf dem Areal des grössten Frischemarktes der Schweiz herrscht Betrieb, als wäre es kurz vor Mittag.

Tiziano Marinello begrüsst uns mit Handschlag. «Wie lang habt ihr Zeit?» «So lange, wie du Zeit hast.» Der Gemüsehändler geht strammen Schrittes voran in Richtung Laderampen, es ist Anfang Juli und Hochsaison. Draussen im Dunkeln haben sich die Gemüsebauern versammelt, die Ernte liegt in grünen Kisten bereit. Tomaten, Salat, Radiesli, feinsäuberlich drapiert. «Donnerstags ist immer Produzentenmarkt. Sehr überschaubar, aber uns ist es wichtig, dass wir in der Saison das Regionale pflegen. Mit Käsers machen wir beispielsweise euren Mesclun-Salat, den ihr in vielen Restaurants habt, Asia-Mix, fünf Sorten. Gestern geschnitten und heute schon bei euch auf dem Mittagsmenü.» Ausserhalb der Saison importiert Marinello den Salat aus dem Veneto. 
article image

«Für unsere Grösse arbeiten wir recht Oldschool, aber das muss so sein.» - Tiziano Marinello

Menschen statt Nummern

Im Raum Zürich kommt kein Gastronom um den Früchte- und Gemüsehändler Marinello herum. Bis Mitternacht bestellen die Restaurants ihre Ware für den nächsten Tag, um halb 2 Uhr geht der Engrosmarkt auf, und bis um 5 Uhr, halb 6, sind alle Waren kommissioniert, die Camions auf der Strasse. In einer durchschnittlichen Nacht sind das etwa 5000 Positionen von 300 Kunden. «Wenn Ricky von der Santa Lucia Paradeplatz was will, dann weiss unser Einkäufer Fabio: Ich muss jetzt Aprikosen für Ricky kaufen. Wir haben keine Kundennummer, und Ricky bestellt auch keinen Artikel, sondern ein Produkt.» Das sei fehleranfällig, natürlich, «für unsere Grösse arbeiten wir recht Oldschool, aber das muss so sein». Gegründet wurde das Geschäft vor hundert Jahren von Tizianos Urgrossmutter Assunta. «Man spricht immer von den Patriarchen, von Gabi Marinello, das war mein Grossonkel, oder von meinem Grossvater, aber die Person, die das Ganze ins Rollen brachte, war eine Frau.» Seine Urgrossmutter verkaufte damals auf dem Zürcher Wochenmarkt, hatte einen Laden an der Weststrasse und bald darauf im Seefeld. Sein Grossvater habe dann relativ früh begonnen, die Gastronomie zu beliefern. «Und so entstanden die beiden Firmen Marinello – die Läden, die es heute ja nicht mehr gibt, und wir, der Grosshandel.» Tiziano führt das Geschäft in vierter Generation.

Probieren, probieren, probieren

Tiziano Marinello zückt ein Sackmesser aus der Hosentasche und schneidet eine gezahnte, rot-grüne Tomate auf. «Wotsch bitz probiere? Das sind Küsnachter, eine alte Sorte.» Degustieren gehört für ihn zum Daily Business und seit er sich zwei Co-Geschäftsführer an Bord geholt hat, hat er auch wieder die Zeit und Musse dafür. «Ich bin operativ ziemlich draussen. Ich kann heute mit anderen Augen über den Markt gehen – und entdeckte Produkte, die meine Einkäufer im Alltagsstress vielleicht übersehen hätten. Wir sind die Augen und die Zunge auf dem Markt.» Tiziano Marinello liebt seinen Job, das merkt man, aber die Nachtarbeit, der Stress, das zehrt. «Ich habe mit 27 angefangen, mache das jetzt seit 15 Jahren. Man verzichtet schon auf viel, und man muss auch bisschen auf die Gesundheit schauen.» Sechs Stunden Schlaf müssen reichen, vier in der Nacht, zwei am Morgen. Ziel der neuen Organisation mit der geteilten Führung sei auch, etwas mehr Zeit für sich zu haben, mehr als zwei Wochen Ferien am Stück etwa. «Da arbeiten wir uns jetzt hin. Aber das gibt schon einen Kulturwechsel.»
Tiziano schneidet eine zweite Tomate auf, mit leichtem Rosa-Stich, eine Berner Rose. «Qualitativ noch nicht 100 Prozent, aber die kommt!» Den Leuten sei oftmals nicht bewusst, dass alles, was man Anfang Juli an Tomaten habe, aus dem Treibhaus komme. Die Berner Rosen seien die ersten aus Freiland-Anbau. Und was wir auch nicht wussten: Zwischen Mai und September sind ausländische Tomaten mit einem Strafzoll belegt, um den Inlandmarkt zu schützen. «Macht einerseits Sinn, andererseits ist man jetzt noch etwas zu früh in der Saison für richtig gute Schweizer Tomaten.»
article image

Küsnachter, eine alte Tomatensorte.

Nacht zum Tag

Wir wechseln rein in die legendäre Halle des Engrosmarkts. Helles Neonlicht, stapelweise Früchte und Gemüse. Hier verkaufen gut 25 Händler und Bauern ihre Ware an Wiederverkäufer wie Marinello. Hochbetrieb herrscht nachts um halb zwei, wenn die Halle öffnet. Inzwischen ist es kurz nach fünf Uhr, die Stimmung ist hervorragend, es wird viel gelacht. Kein Wunder, die Händler haben – kaum bricht der Tag an – bald schon Feierabend. «Es ist sehr familiär, man kennt mich hier, seit ich so klein bin.» Tiziano deutet auf Hüfthöhe und dann auf ein grünes Gemüse, das aussieht wie ein Büschel Gras, Spaghetti-dick. Barba di Frate, Mönchsbart. «Eigentlich ein Arme-Leute-Ding, früher verkauften wir vielleicht eine Kiste pro Woche, heute ein Vielfaches davon.» Die Gastronomie sei ein Innovationstreiber, immer ein paar Jahre voraus. «Dass man Spezialitäten aus Italien kennt, da hat auch Bindella einen grossen Job gemacht.» Dasselbe bei den Kräutern: Mit der nordischen Küche kamen die Wildkräuter. «Nur, die Küchenchefs können ja nicht jeden Tag in den Wald zum Sammeln. Jetzt produziert Mäder in Boppelsen in seinem Laborgarten Spezialitäten wie Borretsch, Beifuss, Lakritze – solches Zeug.» Das Geld verdient Marinello aber mit «0815 Produkten» wie Tomaten, Blumenkohl, Gurken und Peperoni. Oder eigentlich mit der Dienstleistung. «Obwohl wir als Gemüsler natürlich nicht gerne hören, dass wir eigentlich Logistiker sind.» Tiziano lacht.
article image

Im Herzen ist Tiziano Marinello Gemüsle aber im Job natürlich auch Logistiker.

Zum Abschluss steigen wir ins Untergeschoss des Engrosmarktes, wo Marinello praktischerweise sein Lager hat. Es ist laut und hektisch. Sobald die Restaurant-Terrassen offen sind, macht Marinello einen Drittel mehr Umsatz. «Jetzt in der Saison haben wir wie alle zu wenig Leute.» Darum packen alle mit an, Tiziano, seine Geschäftsleitungskollegen, die Mitarbeitenden aus dem Büro. Es ist inzwischen kurz vor sechs Uhr, das Lager praktisch leer. «Die Ware ist draussen, einmal pro Tag dreht alles komplett.» Einzig in einer Ecke stehen noch ein paar Kisten Rucola, Datteri-Tomaten, Spinat. «Das ist Reserve für die Santa Lucias, die sind bekannt, dass sie auch mal was vergessen.» Tiziano lacht. «Liegt natürlich vor allem daran, dass die Santas mit Toplage oder am Sonntag verdammt gut laufen und Gemüse ohne Ende verkochen.»
article image