Als die erste Santa Lucia im Zürcher Kreis 5 ihren Ofen mit Holz einfeuerte, kam Pizza in der Schweiz einer kulinarischen Revolution gleich. Seitdem – und seit nunmehr 57 Jahren – schreibt das populärste italienische Restaurant zwischen Gotthard und Rheinfall fleissig an seiner Erfolgsgeschichte weiter. Wir haben sie aufgerollt, Kapitel für Kapitel …
Kaum ein Laden führt Mozzarella oder Auberginen, Süditalien steht eher für Armut und verrohte Sitten denn für Delikatessen. Die Schweizer Wirtschaft derweil blüht im Zuge der Nachkriegseuphorie, ausländische Gastarbeiter finden etwa im Zürcher Kreis 5 eine neue Heimat. Dort, an der Luisenstrasse 31, betreibt die Familie Bindella das ehemalige Restaurant Hecht. Und plant nun dessen Neueröffnung als Pizzeria, auf Anraten eines italienischen Geschäftskollegen nach einem Stadtteil Neapels benannt. Der 16-jährige Sohn Rudi Bindella seinerseits sitzt wochentags am Pult des Collège Saint-Michel in Freiburg – und so oft als möglich hinter dem Schlagzeug der soeben gegründeten Rockband Les Moby Dicks.
Ein Meilenstein
Am 2. Februar 1965 kommt Bewegung in die Zürcher Beizenlandschaft: Unweit des Limmatplatzes öffnet mit Santa Lucia die erste Holzofenpizzeria der Stadt. Pizza?! Herr und Frau Schweizer reiben sich die Augen. Als «italienische Wähe» beschreibt die NZZ die exotischen Teigfladen, verschreit sie als Modeerscheinung, die bestimmt bald wieder verschwindet. Ganz! Bestimmt!
Zunächst erfährt das jüngste «Baby» der Familie Bindella tatsächlich eine stiefmütterliche Behandlung, wird nur zögerlich frequentiert. Doch nach und nach erobert die Pizza einen festen Platz im eidgenössischen Speiseplan. Ab 1977 existiert eine zweite Santa Lucia im Niederdorf, und als es Ende der Siebziger gilt, die etwas altersschwache Restaurantkette Moby Dick abzulösen, wandeln Vater und Sohn Bindella in Kooperation zuerst ihr Lokal in Oerlikon, später jenes am Paradeplatz zu Santa-Lucia-Filialen um.
Filmreif
Regisseur Rolf Lyssy gelingt ein unerwarteter Coup: «Die Schweizermacher» von 1978 ist – an der Zuschauerzahl gemessen – bis heute der erfolgreichste Schweizer Film. Neben Emil Steinberger und Beatrice Kessler sehen wir Santa Lucia in einer Nebenrolle: In der Komödie über zwei Einwanderungsbeamte kommt ein Pizzaiolo vor, auf dessen stolzer Brust das damalige Logo prangt.
1979 eröffnet im nigelnagelneuen Einkaufszentrum Neumarkt eine weitere Santa Lucia. Damals regelt eine nach Einwohnerdichte berechnete «Bedürfnisklausel», wie viele (und welche) Beizen je Stadtkreis Alkohol ausschenken dürfen. In Altstetten sind sämtliche Lizenzen besetzt. Doch ein Italiener ohne Wein? Das wäre wie Venedig ohne Gondeln. Oder Zürich ohne Limmat. Dank Hartnäckigkeit und Rückendeckung der (alkoholfreien!) Hauptmieterin Migros zeigen sich die Behörden schliesslich flexibel …
Bodenlos
An einem frühen Vormittag 1985 bleibt den Gästen im damaligen Santa Lucia Stauffacher das Herz stehen: Auf einmal donnert ein Teil der Stuckdecke zu Boden. Der Gips hat sich gelöst, aufgeweicht von Wasser aus der darüberliegenden Küche. Zum Glück fällt niemandem die Decke auf den Kopf, die Tische im betroffenen Bereich sind leer.
Treue Seelen
Kirupa Saravanan tritt an einem sommerlichen Julitag 1986 seine erste Schicht in der Santa Lucia an. Über 35 Jahre später sind viele Sommer und noch mehr Schichten dazugekommen – Saravanan hält aktuell den Rekord als dienstältestes noch aktives Santa-Lucia-Urgestein! Zahlreiche Ehemalige aus der «Kaderschmiede Santa Lucia» (Zitat Rudi Bindella) halten dem Unternehmen in anderen Positionen die Treue, etwa als Geschäftsleiter des Ristorante Vallocaia (João Jordão) und operativer Leiter der Perlen-Betriebe (Tümay Şahin).
1991 kommt mit dem Standort in Baden der erste ausserkantonale Ableger dazu.
Kinderspiel
Was nach Kauderwelsch klingt, lässt in den Neunzigerjahren Kindermägen knurren: SaPiPaSchniGla! Das Kürzel, von Rudi Bindella persönlich auf die Santa-Lucia-Karte gesetzt, vereint die Favoriten der jungen Kundschaft, also Salat, Pizza, Pasta, Schnitzel und Glacé. Heute essen Bambini für pauschale zehn Franken – bis sie satt sind. Und apropos Bambini: Erst kürzlich übrigens schaute Kinderzimmerheld Globi unseren Pizzaioli über die Schulter, zwecks Recherchen für sein Italien-Kochbuch.
V.I.P.
Unmittelbar vor den Toren der Santa Lucia Corso rollt das Zurich Film Festival jeweils den grünen Teppich aus. Das sorgt für prominente Kundschaft: Oscarpreisträger Javier Bardem und Neil Patrick Harris («The Matrix 4», «How I met your mother») kehren ein im Lokal, das bis 2005 eine Spaghetti Factory war, genauso wie Popsänger Luca Hänni und der DJ Mr.Da-Nos. Kaum eine Spaghettilänge neben dem Berner Bundesplatz steht seit 2012 die Santa Lucia Bern, von Anfang an tauchen dort bekannte Gesichter auf: National- und Ständeräte, Bundesrätin Karin Keller-Sutter … Und auch YB-Goalie David von Ballmoos, Kapitän Fabian Lustenberger sowie Nationalspieler Christian Fassnacht haben quasi einen Stammplatz am Bärenplatz 7.
50 Jahre nach dem Startschuss feiert Santa Lucia das halbe Jahrhundert mit dem Comeback am Paradeplatz: Am zweistöckigen Lokal an der Waaggasse 5 (früher ebenfalls ein Moby Dick und zwischenzeitlich das gehobene Contrapunto) leuchten ab 2015 wieder die Santa-Lucia-Versalien. Damaliger Slogan: «Auch für Banker, die keine Boni erhalten haben.»
Licht aus
Eine Pandemie bedroht das Land, ja die Welt! Darum müssen am 16. März 2020 auf Geheiss des Bundesrats sämtliche Restaurants schliessen. Dafür laufen nun die Elektroroller des wenige Monate zuvor in einem fast schon prophetischen Effort lancierten Lieferservice «Santa Lucia – a casa mia» heiss: Die fleissigen Kuriere verteilen die nachhaltig verpackten Spezialitäten aus der Santa-Lucia-Küche in der ganzen Stadt.
Zeitgeistig
Als bis dato jüngstes Mitglied der «Famiglia» kommt im Herbst 2021 das Santa Lucia Subito hinzu – nach neuem Konzept: Take-away, Restaurant und Delivery-Verteilzentrum in einem, in Sichtdistanz zum Zürcher Hauptbahnhof.